Dienstag, 10. März 2009

Kultur und Bildung

- Wege zur Neubewertung aus der Sicht der Stadtentwicklungsplanung
- Überlegungen aus der Praxis -
Helmut Böhme, Leverkusen

zuerst veröffentlich in: Max Fuchs/Christiane Liebald (Hrsg.): "Wozu Kulturarbeit?", Remscheid, 1995, ISBN 3-924407-37-1, S. 154 - 158

Gefragt, ob ich auf der Grundlage meiner bisherigen Arbeiten etwas zur Evaluierung von Kultur und Bildung beitragen könnte, habe ich nach kurzer Überlegung mit der Ergänzung zugesagt, daß meine Aussagen unter dem Aspekt der Bewertung komplexer Sachverhalte in der Stadtentwicklungsplanung formuliert werden. Je mehr ich dann aber in die Arbeit einstieg, desto deutlicher erkannte ich, daß Überlegungen zur Neubewertung zentraler Aufgaben im Jahre 1995 nicht mehr allein mit den Kategorien aus den vergangenen zwanzig Jahren zulässig sind. Auch die Methoden und Instrumente dürften überholungsbedürftig sein. Die Veränderungen in der Welt und ebenso die im Wertesystem der Gesellschaft mußten Eingang finden in diese Überlegungen - erst recht dann, wenn sie als Grundlage für künftige Entwicklungen dienen sollen. Verbunden mit weiteren Ausführungen zu Handlungsvorschlägen, einem Ausblick auf das 21. Jahrhundert und einigen Thesen am Ende ist die Arbeit zu einem eigenständigen Text von einem Umfang angewachsen, der den Rahmen des Auftrags bei weitem übersteigt. Sie steht jetzt dem Auftraggeber zur Verfügung und kann darüber hinaus im öffentlichen Leihverkehr über die Senatsbibliothek Berlin als „graue Literatur“ angefordert werden. (Helmut Böhme „Wege zur Bewertung komplexer Sachverhalte in der Stadtentwicklungsplanung mit den Schwerpunkten Kultur und Bildung - Überlegungen aus der Praxis -“, Leverkusen, 1995)

Ich stelle zunächst vier Ausgangsthesen vor:

· Die zentrale Frage der Zukunft zielt auf die Fähigkeit des Menschen, mit sich, seinen Mitmenschen und mit seiner Umwelt so umzugehen, daß er überlebt.

· Wachstum verliert seine zentrale Bedeutung, an seine Stelle tritt ein dynamisches Gleichgewicht. Nicht immer „Mehr“ von allem, sondern immer mehr „Nachhaltigkeit“ von Wichtigem ist gefragt. Entsprechend verlagern sich die Wertmaßstäbe.

· Dieser Wertewandel in der Gesellschaft führt zur Verlagerung auch in der Wahl von Instrumenten für die Bewertung. Neue Kategorien gewinnen an Bedeutung.

· Abkehr von geschlossenen Systemen - Hinwendung zu offenen Netzwerken: inhaltlich, formal, temporal, horizontal und vertikal öffnen den Weg in die Zukunft. Lebensfähige Systeme sind immer nach außen offen, von außen zugänglich (Vester).

Vor diesem Hintergrund gewinnen Kultur und Bildung zentrale Bedeutung in einer Welt, in der die Macht der Institutionen zerfällt und die Gesellschaft auf die Solidarität ihrer mündigen Mitglieder verstärkt angewiesen ist.

Unmündig wird eine Gesellschaft dann, wenn sie die Koordinaten ihrer geschichtlichen, kulturellen, sozioökonomischen, ökologischen und seelischen Existenz nicht kennt. Kenntnis und Erfahrung der politischen Kultur des eigenen Landes gehört zu den Lebensbedingungen einer demokratischen Gesellschaft.

Beschreiben wir Kultur als Lebensgefühl einzelner oder von Gruppen, in dem Lebensinhalte und Lebensziele zum Ausdruck kommen, dann reicht ihre Bedeutung weit über das Wirtschaftliche hinaus. Sie ermöglicht Identität, sie verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sie gibt der Zeit eine eigene Dimension. Sie ist eine Erfahrung, die Innovation und Kommunikation fördert und stärkt. Von diesem Geflecht unterschiedlicher Formen, mit denen die Menschen ihrem Lebensgefühl Ausdruck verleihen, sind die Produkte zu unterscheiden, die als Ware auf dem Markt gehandelt werden. Als Ergebnisse kultureller Prozesse sind auch sie Ausdruck von Lebensgefühl, gewinnen aber darüber hinaus den Warencharakter, der Handel ermöglicht und sie den Gesetzen von Nachfrage und Angebot, von Hausse und Baisse unterwirft. Kultur in der Stadt ist zunächst und vor allem Lebensäußerung aller in der Stadt lebenden Menschen und deshalb keinem bestimmten Anbieter oder Nachfrager zuzuordnen. Wenn diese kulturellen Prozesse den einzelnen oder ganze Gruppen in die Lage versetzt, Verantwortung zu übernehmen und auf diese Weise eine Entwicklung zur sozialkulturellen Persönlichkeit in Gang setzt, dann spreche ich von Soziokultur.

Im Rahmen des Handlungsfeldes Kultur werden die Werte der Gesellschaft geprägt, verändert und als Antwort auf künftige Herausforderungen auch neu geformt. Verstehen wir Kultur in dieser Weise, dann müssen die bisherigen Sparten weniger von den Angeboten als von ihren Funktionen her bestimmt und in ihrer Bedeutung für die künftige Entwicklung wesentlich verändert werden. Zunächst geht es nicht darum, Konsumangebote zu fördern, sondern Anstöße zur Ausbildung eigener Lebensinhalte und -ziele, Ausdrucksformen und eigenständiger Identitäten. Dazu sollte man einige Eigenschaften haben, wie Nadolny sie beschreibt - den gelassenen Blick der Analyse, den durchdringenden, der sich auf das Detail konzentriert, und den umfassenden Blick, der Zusammenhänge erfaßt - bei Nadolny ist es der „Panoramablick“. Und gerade die Ausprägung einer sozialkulturellen Persönlichkeit gelingt nicht ohne jene Toleranz, die von der Verschiedenheit individueller Geschwindigkeiten und Geschwindigkeits-Phasen lebt.

Bildung entscheidet über Inhalte, Wissensgegenstände und Kenntnis gesellschaftlicher Koordinaten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dies sind die wichtigen Funktionen der Bildung als einem zentralen Handlungsfeld in der Stadtentwicklungsplanung - und darüber hinaus.

Man könnte Kultur als einen Mörtel verstehen, der unterschiedliche Elemente miteinander verbindet oder als Muskeln, die den Menschen in die Lage versetzen, sich koordiniert und zielgerichtet zu bewegen. Bildung hätte dann die Funktion eines Transportsystems, das die vielfältigen Elemente von Wissen und Erfahrungen in einer modernen Gesellschaft vermittelt. Es muß so beschaffen sein, daß auch moderne Transportmittel ihren Weg und ihr Ziel finden, zugleich die lebens- und überlebensnotwendigen vor den weniger wichtigen Vorfahrt haben.

Stadtentwicklungsplanung dürfte langfristig nur Bestand haben, wenn es ihr gelingt, sich unabhängig von wechselnden Moden auf folgende Aufgaben zu konzentrieren:

· Beobachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung,

· deren Analyse in Bezug auf die Situation der Stadt,

· die Formulierung städtischer Entwicklungsziele,

· die Beschreibung von Wegen zur Erreichung dieser Ziele sowie

· die kontinuierliche Begleitung des Umsetzungsprozesses auf dem Wege der Beteiligung aller Betroffenen und Beteiligten in offener Kooperation.

Stadtentwicklungsplanung stellt sich damit als ein kontinuierlicher, dynamischer und transparenter Planungsprozeß dar, der durch die Einbeziehung Betroffener und Beteiligter wie auch der Öffentlichkeit sowohl emanzipatorische als auch partizipatorische Ziele erfüllt. Stadtentwicklungsplanung ist ein politisches Führungsinstrument, das die Voraussetzung für zukunftsfähige Entscheidungen schaffen soll. Die Schwerpunkte heutiger Stadtentwicklungsplanung liegen darin,

· methodisch Wege zu finden, die hinreichend genau empirische Grundlagen mit konzeptionellen Entwürfen künftiger Gesellschaften zu verbinden in der Lage sind,

· inhaltlich bereits heute Beiträge zur Lösung aktueller Aufgaben zu leisten und

· neue Formen der Planung, Kooperation und emanzipatorischer Partizipation zu finden, die dem erweiterten Konsensbedürfnis in der Gesellschaft gerecht werden.

Zentrale Aspekte für den Ausgang meiner Untersuchung sind Ökologie (Ernst-Ulrich von Weizsäcker), Ökonomie (Peter Ulrich), Erlebnisgesellschaft (Gerhard Schulze) und eine nähere Betrachtung des Aspekts Identität (Martin und Sylvia Greiffenhagen, Richard Münch).

Zu den „neuen“ Entdeckungen anläßlich dieser Arbeit zählen für mich die Chancen, die sich künftig ergeben, „Zeit“ als eine neue Kategorie in gesellschaftliches Planen einzuführen (Lothar Baier, Dietrich Henckel u. a.). Besonders tragfähig erweist sich für mich das Bild aus dem Roman von Sten Nadolny, dessen Held eine Schule entwirft, die den langsamen, den starren, den Panoramablick übt und sich auf eine Toleranz einläßt, die aufbaut auf der Verschiedenheit der individuellen Geschwindigkeiten und Geschwindigkeits-Phasen. (Ich habe die verschiedenen Nadolnyschen Blicke bestimmten planerischen Instrumenten zugeordnet: langsamer Blick - Analyse, starrer Blick - Detail, Panoramablick - Zusammenhänge). Wenn wir das Ganze unter dem Titel des Romans als eine Art Programm ansehen, „Die Entdeckung der Langsamkeit“ neu einzuüben, könnte daraus eine Absage an die verschiedenen Geschwindigkeitsdiktate unserer Zeit entstehen.

Die zweite „Entdeckung“ war für mich die Erkenntnis, „Chaos“ als existentiellen Bestandteil des Lebens und als planerische Kategorie zu akzeptieren, die als Element einer Funktion in einen Regelkreis einbezogen wird.

Diese Veränderungen in der Struktur künftiger Wertvorstellungen wirken sich auf das Leben des einzelnen wie auch der Gesellschaft insgesamt aus. In der Folge müssen wir auch die Instrumente ändern, mit denen wir Wege in die Zukunft hinein zu öffnen versuchen. Wege zur Bewertung komplexer Sachverhalte, insbesondere für Kultur und Bildung, dürften sich künftig nur als tragfähig erweisen, wenn sie

· den künftigen Wertewandel in der Gesellschaft angemessen berücksichtigen,

· die geeigneten Instrumente verwenden und

· die neuen Maßstäbe nicht nur formulieren, sondern auch anerkennen.

Das bedeutet konkret, in einen Bewußtseinswandel einzutreten, der diese Wege eröffnet.

Die Erkundung von Wegen zur Neubewertung von Kultur und Bildung ist aus dieser Sicht zunächst keine technische Frage, sondern eine des Selbstverständnisses der Gesellschaft, in der wir leben. Die Analyse des Ist-Zustandes muß zu einer Zielbeschreibung führen, auf die hin Kultur und Bildung sich neuen Herausforderungen ihrer Zeit stellen.

Für mich ist das die Aufgabe, den Menschen in die Lage zu versetzen, seine eigenständige Identität zu gewinnen und zu behaupten in einer sich ständig verändernden Welt - und zwar als einzelne ebenso wie als Gemeinschaft. Wenn es denn zutrifft, daß wir in einer Zeit leben, in der Institutionen immer weniger in der Lage sind, die anstehenden Probleme zu lösen und zunehmend an Macht verlieren, kommt es verstärkt darauf an, daß es einzelne Menschen gibt, die imstande sind, die endliche Welt, „die wieder unser gemeinsames Schicksal geworden ist, gedanklich zu fassen und unser Gewissen vor Verarmung zu bewahren“ (Guéhenno). In der Kenntnis der Koordinaten seiner geschichtlichen, kulturellen, sozio-ökonomischen, ökologischen und seelischen Existenz antwortet der einzelne auf die Frage, woher er kommt, wo er heute steht und wohin er geht anders als ohne diese Kenntnis und Erfahrung. Er vermag sich zur sozialkulturellen Persönlichkeit zu entfalten, die soziale und politische Verantwortung übernehmen kann. Je mehr das möglich wird, desto tragfähiger wird die Gesellschaft, in der wir leben - umso eher besteht die Chance, daß wir Herausforderungen der Zukunft erfolgreich begegnen können.

Literatur

Baier, Lothar „Volk ohne Zeit“, Frankfurt/Main 1990

Böhme, Helmut

· „Freie Initiativen als gestaltende Elemente kommunaler Weiterbildungslandschaft in ihrer Bedeutung für die Kultur in der Stadt“ in „Blätter zur Hessischen Volksbildung“. Heft 4/1986, S. 343 - 349

· „Stadtkultur und Weiterbildung I“ in „Stadtkultur und Weiterbildung“, Köln 1980, S. 4 - 23

· „Legitimationsstatistik und Strukturstatistik - eine neue Kulturstatistik?“ in „Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik“, Hagen 1988, S. 103 - 117

· „Kulturstatistik auf ‘neuen’ Wegen? - Ein Tagungsrückblick“ in „Datenharmonisierung in der Kulturstatistik. Neue Modelle und Verfahrensweisen für vergleichende Analysen“. Bonn 1993, S. 77 - 85

· „Zur Eingliederung von Kulturentwicklungsplanung in die Stadtentwicklungsplanung“ in „Der Städtetag“ Heft 11/1979, S. 663 - 667

Bolz, Norbert „Chaos und Simulation“, München 1992

Briggs, John und F. David Peat „Die Entdeckung des Chaos“ (1989) München, 4 A. 1995, dtv 30349

Bust-Bartels, Axel „Ökonomische Entwicklung und (Sozio-)Kultur“. Hagen 1993

Fuchs, Max „Kulturelle Identität“, Remscheid 1993

Fuchs, Max und Christiane Liebald (Hrsg) „Kulturmanagement ist praktische Kulturpolitik“. Remscheid 1994

Fukuyama, Francis „Das Ende der Geschichte“. München 1992

Guéhenno, Jean-Marie „Das Ende der Demokratie“. München 1994

Glucksmann, André „Am Ende des Tunnels“. Berlin 1991

Greiffenhagen, Martin und Sylvia „Ein schwieriges Vaterland“. München 1993

Henckel, Dietrich

· (Hrsg) „Arbeitszeit, Betriebszeit, Freizeit - Auswirkungen auf die Raumentwicklung“. Stuttgart 1988

· u. a. „Zeitstrukturen und Stadtentwicklung“. Stuttgart 1989

Ingelhart, Ronald „Kultureller Umbruch“. Frankfurt/Main 2. A. 1995

„Kulturgut Stadt“ (Ein Cappenberger Gespräch). Köln 1994

Kulturpolitische Gesellschaft u. a. (Hrsg.) „Unternehmen Kultur?“. Hannover und Hagen 1994

Mäding, Heinrich (Hrsg) „Stadtperspektiven. Difu-Symposium 1993“. Berlin 1994

Münch, Richard „Das Projekt Europa“. Frankfurt/Main 1993

Nadolny, Sten „Die Entdeckung der Langsamkeit“ (1983). München 30. A. 1994

Novotny, Helga „Eigenzeit“. Frankfurt/Main 1993

Ulrich, Peter „Tranformation der ökonomischen Vernunft“ (1986). Stuttgart 2. rev. A. 1993

Schwencke, Olaf u. a. (Hrsg) „Kulturelle Modernisierung in Europa“. Hagen 1993

Schulze, Gerhard „Die Erlebnisgesellschaft“ (1992). Frankfurt/Main 3. A. 1993

Sievers, Norbert und Bernd Wagner (Hrsg) „Blick zurück nach vorn“. Hagen 1994

Vester, Frederic „Neuland des Denkens“ (1980). München 8. A. 1993, dtv. 30068